Der Friedhof der Namenlosen

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Ein christliches Symbol auf einem nicht-kirchlichen Friedhof: Der Sonnenaufgang steht für die Auferstehung von Jesus Christus.

Mitten im Berliner Grunewald liegt ein uralter Friedhof. Die meisten der dort begrabenen Toten fielen einst bei der christlichen Kirche in Ungnade. Alle verbindet das gleiche tragische Schicksal.

“Schandacker”, so nannten die Bürger von Berlin einst über Jahrhunderte eine Lichtung im Grunewald – lange bevor dort ein Friedhof entstand. Denn schon bereits zu jener Zeit wurden Menschen dort begraben. Doch dies geschah still und heimlich – wohl oft in der Dunkelheit.

Gescheitert im Leben und bestraft im Tod

Es ist kein Zufall, dass viele Menschen an dieser Lichtung ihre letzte Ruhestätte fanden. Der Ort liegt an der Havel. Dort –  an der sogenannten Bucht von Schildhorn – macht der Fluss eine Biegung. Folglich wurden durch die Strömung immer wieder mal Leichen an das Ufer gespült. Darunter befanden sich sehr häufig Selbstmörder.

Eine zerbrochene Liebe, ein schmerzhafter Verlust oder eine unheilbare Krankheit: Für Selbstmord gibt es viele Motive. Der Suizid galt bis ins 19. Jahrhundert als Verbrechen, das vom Staat geahndet wurde. Im Christentum gilt der Selbstmord zudem als Todsünde. Daher verweigerte die Kirche eine Bestattung auf ihren Friedhöfen.

Verantwortlich für die Toten war daher der Oberförster des Grunewaldes. Die Forstverwaltung beschloss 1878/79 die Leichen der Selbstmörder auf der Lichtung bestatten zu lassen – ohne den Segen der Kirche und daher in ungeweihter Erde. So begann die Geschichte von Deutschlands einzigem Selbstmörder-Friedhof.

“Und an deinen Ufern und an deinen Seen, / Was, stille Havel, sahst all du geschehen?!” Theodor Fontane (1819-1898), in “Wanderungen durch die Mark Brandenburg”, Band 3 “Havelland” (1873)”.

Der Ort inspirierte aufgrund seiner Geschichte zahlreiche Lyriker: Theodor Fontane (1819-1898) beschrieb in seinem Werk “Wanderungen durch die Mark Brandenburg” die Havel zwischen Spandau und Potsdam wie folgt: “Und an deinen Ufern und an deinen Seen, / Was, stille Havel, sahst all du geschehen?!” Fontane zieht zwar explizit keine Verbindung zu den angespülten Leichen der Selbstmörder, die dann auf der Lichtung begraben wurden. Allerdings lässt der zweite Satz eine Interpretation in diese Richtung durchaus zu.

Ein weiterer Schriftsteller, den der Friedhof inspirierte, war Georg Heym (1887-1912). Er widmete das Gedicht “Der Armenkirchhof” dem Ort. Heym ertrank am 16. Januar 1912 in der Havel, als er beim Schlittschuhlaufen einen Freund retten wollte, der in das Eis eingebrochen war.

Der älteste erhaltene Nachweis einer Bestattung auf dem Friedhof ist auf den 22. Januar 1900 datiert. Einige besondere Kreuze auf dem Friedhof erinnern an den Selbstmord von fünf Russen nach der Oktoberrevolution von 1917. Sie hatten sich nach dem Tod des Zaren Nikolaus II. das Leben genommen – ihre Leichen wurden in der Havel gefunden.

Der Eingang des Friedhofs Grunewald-Forst. Ohne die drei Wegweiser würden Besucher den Ort wohl nicht finden.
Der Eingang des Friedhofs Grunewald-Forst. Ohne die drei Wegweiser würden Besucher den Ort wohl nicht finden.

Ende der 1920er Jahre änderte sich der Charakter des Friedhofs grundlegend: Das Oberforstamt zog eine Mauer um den Friedhof. Zudem wurde beschlossen, dass fortan jeder Tote auf dem Friedhof begraben werden konnte – ganz gleich, ob Selbstmord der Grund für den Tod war oder nicht. Das berühmteste Grab ist seit 1988 die Ruhestätte der Sängerin Christa Päffgen alias “Nico”.

Obwohl fortan jeder auf dem Friedhof bestattet werden konnte, blieb der Ort für lange Zeit den meisten Menschen als reiner “Selbstmörderfriedhof” im Gedächtnis.

Die vergessenen Seelen

Aufgewühlte Erde, eine schlichte Stehle oder ein Kreuz aus Holz – mehr kennzeichnete die meisten Gräber der Selbstmörder nicht. Jeder der Beteiligten war froh, wenn die Toten schnell unter der Erde verschwanden.

Schlichte Holzkreuze kennzeichnen die Gräber der Selbstmörder.

Selten kam es vor, dass ein Totengräber zumindest ein Datum hinterließ. Doch dabei handelte es sich lediglich um das Funddatum der Leiche – der Todestag blieb ungewiss.

Auf den Gräbern wurden keine Namen hinterlassen. Dies geschah oft, weil sie schlicht unbekannt waren. Doch selbst wenn die Identität der Toten klar war, lehnten die Angehörigen immer eine Nennung des Namens ab.

Das hatte zwei Gründe: Erstens landeten die Leichen der Selbstmörder gerne für medizinische Studien auf den Obduktions-Tischen der Anatomie. Das war für Verwandte oder Freunde nicht zu ertragen. Zweitens war ein Suizid auch gesellschaftlich verpönt. Niemand wollte mit einem Selbstmörder in Verbindung gebracht werden – weder als Verwandter noch als Freund. Die Toten sollten einfach vergessen werden – für immer.

Weiße Rose auf einem der Gräber.
Weiße Rose auf einem der Gräber.

Und so ist es auch geschehen: Die Toten gerieten in Vergessenheit. Darüber hinaus ist sogar der gesamte Friedhof heute nur noch wenigen Berlinern ein Begriff – es ist ein “Vergessener Ort”. Beerdigungen finden seit geraumer Zeit nicht mehr statt. Der Senat zieht es in Erwägung, dass die Stätte in rund 50 Jahren der Natur zurückgegeben wird. Viele Geheimnisse auf dem “Friedhof der Namenlosen” werden wohl bis in alle Ewigkeit ungelöst bleiben.

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